Die Frau, die die dominikanische Medizin veränderte
Sosúa, 08.11.2024 – ein Beitrag von Thomas P- Jung
1879 wurde in San Rafael del Yuma (Provinz La Altagracia) ein Mädchen geboren, das die dominikanische Gesellschaft revolutionieren sollte: Andrea Evangelina Rodríguez Perozo, am 10. November 1879 als Tochter einer analphabetischen Bäuerin und eines wohlhabenden Kaufmanns geboren, bewegte sich früh zwischen zwei Welten, die kaum unterschiedlicher sein konnten. Doch gerade diese Kontraste prägten ihren Weg, formten ihren unermüdlichen Kampfgeist und führten sie dahin, wo bis dahin keine dominikanische Frau zu träumen gewagt hatte: in die Welt der Medizin. Ihre Geschichte steht nicht nur für akademische Leistungen, sondern für eine ganze Bewegung – eine stille Revolution für die Rechte und Möglichkeiten der Frauen.
Ein Leben für Bildung, Medizin und den Mut zur Veränderung
Bereits in jungen Jahren war Evangelina eine außergewöhnliche Schülerin. Nach ihrem Umzug nach San Pedro de Macorís brillierte sie im Instituto de Señoritas, wo sie als Lehrerin mit Auszeichnung abschloss. Doch ihr Ziel ging weit über die Erfüllung gesellschaftlicher Erwartungen hinaus. In einer Zeit, in der der medizinische Beruf in der Dominikanischen Republik ausschließlich Männern vorbehalten war, entschied sie sich 1903, an der Universität Santo Domingo Medizin zu studieren. Es war eine Entscheidung, die Courage und Durchhaltevermögen erforderte, denn Frauen sahen sich in diesem Bereich mit tief verwurzelten Vorurteilen konfrontiert. Trotzdem beendete sie ihr Studium 1911 mit einer bahnbrechenden Arbeit zur zerebralen Erregung bei Kindern und schrieb damit als erste dominikanische Ärztin Geschichte.
Der akademische Erfolg von Evangelina blieb nicht aus. Im Jahr 1920 zog sie nach Paris, um sich in renommierten Einrichtungen wie der Maternité Baudelocque und der Frauenklinik Brocá weiterzubilden. Bei ihrer Suche nach Wissen spezialisierte sie sich auf Gynäkologie, Geburtshilfe und Kinderheilkunde und sammelte an der Seite des berühmten Arztes Jean Louís Faure internationale Erfahrung. Als sie 1925 in die Dominikanische Republik zurückkehrte, brachte sie nicht nur neue Techniken mit, sondern auch eine Vision, die die sozialen und gesundheitlichen Herausforderungen ihrer Heimat adressieren sollte.
Zurück in San Pedro de Macorís etablierte Evangelina ein einzigartiges Projekt: „La gota de Leche.“ Sie schuf ein Netzwerk, das in einer Zeit der Mangelversorgung Müttern eine sichere Nahrungsquelle für ihre Babys ermöglichte. In einfachen Baracken eingerichtet, wurde dieses Projekt zum Symbol eines Gesundheitssystems, das nicht nur heilen, sondern vorsorgen und das Leben in den verwundbarsten Gemeinschaften schützen wollte. Doch Evangelinas Wirken ging noch weiter. Sie setzte sich für die Ausbildung von Hebammen ein, führte Programme zur Sexualerziehung und Familienplanung ein und bekämpfte Geschlechtskrankheiten, allesamt Initiativen, die ihrer Zeit weit voraus waren.
Andrea Evangelina Rodríguez Perozo war jedoch nicht nur eine Pionierin in der Medizin. Sie zeigte auch zivilen Mut, als sie sich dem diktatorischen Regime von Rafael Trujillo entgegenstellte. Ihre Kritik an der Unterdrückung und Ungerechtigkeit kostete sie berufliche und gesellschaftliche Anerkennung und führte letztlich dazu, dass sie die letzten Jahre ihres Lebens in Vergessenheit verbrachte. Trotz ihrer Rückkehr in die Dominikanische Republik, trotz ihres unermüdlichen Einsatzes für das Wohl der Menschen, starb sie einsam in San Pedro de Macorís.
Würdigung und Vermächtnis
Erst Jahre nach ihrem Tod wurde ihr Lebenswerk offiziell gewürdigt. Heute erinnert die Profamilia-Klinik Evangelina Rodríguez in Santo Domingo an ihr Vermächtnis. Bildungszentren und Gesundheitsinstitutionen tragen ihren Namen und setzen ihr Werk in ihrem Geiste fort. In Santo Domingo ist eine Straße nach ihr benannt und das Gemeindegesundheitszentrum der Universität INTEC erinnert an sie, indem es medizinische Grundversorgung anbietet.
Andrea Evangelina Rodríguez Perozo war mehr als eine Medizinerin – sie war eine Visionärin, die die Grenzen des Möglichen verschob. In einer Gesellschaft, die Frauen den Zugang zur Bildung verwehren wollte, bahnte sie sich ihren Weg und hinterließ ein Vermächtnis, das den Grundstein für eine selbstbewusste, bildungshungrige Generation dominikanischer Frauen legte. Sie bleibt eine leuchtende Erinnerung daran, dass Mut, Wissen und Engagement Barrieren überwinden können, die einst unüberwindbar schienen.